In der Quantenphysik gibt es ein weit über Physik greifendes faszinierendes Phänomen, den Beobachtungseffekt. In einer Studie, über die in der Zeitschrift Nature 1998 berichtet wird, führten Forscher am Weizmann-Institut ein äusserst detailliert kontrolliertes Experiment durch, das demonstriert, wie Elektronen durch den Akt der Beobachtung beeinflusst werden. Ohne Beobachtung zeigen die Elektronen Interferenzmuster, also wellenartige Eigenschaften. Mit Beobachtung hingegen verhalten sie sich wie Teilchen. Interferenz kann nur stattfinden, wenn niemand dabei zusieht. Der bloße Akt der Messung beeinflusst das Ergebnis.
Und es kommt sogar noch verrückter! Der Effekt ist abhängig von der Intensität der Beobachtung. Mit zunehmenden Observationsgrad (in diesem Fall mit zunehmender Elektronenspürfähigkeit des Messgeräts) nimmt die Interferenz ab.
Dieser Effekt ist nicht nur ein Kuriosum der Quantenwelt. Er bietet auch eine tiefere Einsicht in menschliche Entwicklungsprozesse.
Wenn Beobachtung zur Belastung wird
In der Psychologie ist der Beobachtungseffekt auf das menschliche Verhalten schon lange als Hawthorne-Effekt bekannt. Menschen verhalten sich anders, wenn sie sich beobachtet fühlen. Aber nicht nur das! Auch gewünschte Prozesse wie allgemeine Reifungs- und Wachstumsprozesse wie auch spezifische wie beispielsweise die Entwicklung von Frustrationstoleranz lassen sich durch Beobachtung und insbesondere Messung hemmen. Was ich in meiner Praxis schon immer mit Erstaunen erlebe, lässt sich ausgerechnet durch eine Erkenntnis der Quantenphysik erklären und auf eine neuronale Ebene übertragen: Anstehende Entwicklungsprozesse von Kindern und Jugendlichen stagnieren, wenn Eltern und andere Bezugspersonen sie zu genau beobachten, ja fast überwachen. Der Akt des Messens alleine beinhaltet das kritische und genaue Beobachten, das Festhalten und den Vergleich mit einer Norm. Und jeder einzelne Anteil davon trägt zur Hemmung und Lähmung des gewünschten Prozesses bei.
Witzigerweise spielt ein anderes Phänomen ebenfalls auf die Aufmerksamkeit auf gewünschte Prozesse an, mit einem gegenteiligen Ergebnis: die Metapher des weissen und schwarzen Wolfs. «Welcher Wolf wird gewinnen?», wird der weise Cherokee gefragt. «Der, den Du fütterst», lautet die Antwort. Die Metapher besagt, dass der weisse Wolf (die gewünschten Eigenschaften) wächst, wenn er gefüttert wird (mit Aufmerksamkeit). Hingegen wird der schwarze Wolf (die ungewünschten Eigenschaften) immer schwächer, wenn man ihn weniger füttert. (Ganz nebenbei: ich würde empfehlen, auch den schwarzen Wolf gut zu pflegen. Gut möglich, dass seine Eigenschaften eines Tages nützlich werden. Ausserdem ist er doch auch irgendwie toll, oder nicht?)
Was ist nun der Unterschied der Beobachtung? Der Beobachtereffekt entspringt einer gut gemeinten, aber ängstlichen und kontrollierenden Haltung. Der Beobachter wünscht eine Veränderung und glaubt im Grunde nicht daran, deshalb möchte er sie messen, bewerten, vergleichen, festhalten. Das lähmt.
Das Füttern des weissen Wolfes birgt eine Zuversicht in sich, eine Überzeugung, dass das Gute wachsen wird. Gleichzeitig stellt es die dazu notwendigen Voraussetzungen sicher (in diesem Fall das Futter), bahnt also die positive Entwicklung an. Wenn wir also eine Entwicklung vorantreiben wollen, sollen wir also günstige Voraussetzungen dafür schaffen UND VERTRAUEN.
So, wie das Elektron durch die Abwesenheit der Beobachtung seine Wellennatur zeigt, so zeigen Menschen oft ihre kreativsten und schönsten Seiten, wenn sie nicht das Gefühl haben, ständig unter Beobachtung zu stehen. Wer Wachstum will, muss loslassen können. Manchmal ist das größte Geschenk, das wir jemandem machen können, einfach nicht hinzusehen und sich mitzufreuen. So, wie das Elektron durch die Abwesenheit der Beobachtung seine Wellennatur zeigt, so zeigen Menschen oft ihre kreativsten und schönsten Seiten, wenn sie nicht das Gefühl haben, ständig unter Beobachtung zu stehen.